Vor ein paar Monaten habe ich eine Umfrage gestartet: Wie wichtig ist Dir der Lebenslauf im Bewerbungsprozess? Das Ergebnis war eindeutig: Die meisten Personalentscheider finden, dass ein Lebenslauf unbedingt notwendig ist. Doch hier drängt sich eine Frage auf: Was habe ich von einem Lebenslauf, wenn darin gelogen wird? Wenn maßlos übertrieben wird oder Informationen stehen, die gar nicht stimmen?
Leider ist dieses Problem kein Einzelfall. Selbst Politiker manipulieren ihre Lebensläufe, um interessanter zu wirken oder eine Expertise vorzutäuschen, die sie gar nicht haben.
Erschreckende Zahlen zur Ehrlichkeit im Lebenslauf
Laut einer Studie aus dem Jahr 2023 sind mehr als die Hälfte aller Lebensläufe nicht wahrheitsgemäß. Genauer gesagt, geben 58,5 % der Befragten an, schon einmal im Lebenslauf geschummelt zu haben. Noch alarmierender ist, dass Männer dabei weniger Skrupel haben als Frauen: 70,9 % der Männer, aber nur 46 % der Frauen geben an, ihren Lebenslauf beschönigt zu haben.
Andere Studien bestätigen diesen Trend. Laut einer Untersuchung von CareerBuilder aus dem Jahr 2022 gaben 75 % der Personalverantwortlichen an, schon einmal einen gefälschten Lebenslauf entdeckt zu haben. Am häufigsten wird bei der Berufserfahrung geschummelt (56 %), gefolgt von falschen Angaben zu erworbenen Abschlüssen (33 %) und technischen Fähigkeiten (31 %).
Diese Zahlen sind erschreckend. Warum sollte ich als Personalverantwortlicher jemanden einstellen, der mich schon vor dem ersten persönlichen Kennenlernen anluügt? Für mich persönlich sind Lügen eines der schlimmsten Dinge, die man einem Gesprächs- oder Geschäftspartner antun kann. Ein altes Sprichwort sagt: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht!“
Eigene Erfahrungen mit Lügen
Ich habe sogar einmal ein Unternehmen verlassen, weil mir die Geschäftsleitung immer wieder Märchen aufgetischt hat. Zum Schluss konnte ich Wahrheit und Lüge nicht mehr unterscheiden. Aber zurück zum Thema Lebenslauf…
Warum ich auf den Lebenslauf verzichte
Natürlich möchte man vorab Informationen über Kandidaten haben, um zu überprüfen, ob ihre Qualifikationen zur Vakanz passen. Doch warum verlasse ich mich nicht auf den Lebenslauf, sondern setze auf Kommunikation? Ganz einfach: Ein Gespräch gibt mir viel tiefere Einblicke.
In der Regel haben Kandidaten ein Profil auf sozialen Netzwerken wie Xing, LinkedIn, Facebook oder ähnlichen Plattformen. Google findet fast jeden. Ich mache mir diese Quellen zunutze und weiß so vor den Gesprächen bereits einiges über die Bewerber. In den Gesprächen gehe ich dann gezielt auf die Punkte ein, die mir wichtig sind oder die für meine Kunden von Bedeutung sind.
Das gibt mir oft mehr und vor allem ehrlichere Informationen, als ein Lebenslauf jemals liefern könnte.
Praxisbeispiele aus meiner Arbeit
Ein Kunde aus der Branche für erneuerbare Energien wollte sein Vertriebsteam aufstocken. In den Gesprächen habe ich gezielt das Fachwissen der Kandidaten abgeklopft. Dabei wurde schnell klar, wer tatsächlich über die nötige Expertise verfügte und wer lediglich eine gute Sales-Persönlichkeit war.
Ein weiteres Beispiel: Ein Kunde aus der IT-Branche suchte dringend einen Entwickler für eine spezifische Programmiersprache. Statt nur auf Zertifikate und Lebensläufe zu achten, habe ich im Gespräch gezielt technische Aufgaben gestellt. Dabei fiel ein Bewerber auf, der im Lebenslauf nur allgemeine IT-Erfahrung angab, im Gespräch jedoch durch sein tiefes Wissen in genau dieser Programmiersprache überzeugte. Hätte ich mich allein auf den Lebenslauf verlassen, wäre dieser Kandidat durch das Raster gefallen.
Auch in Bezug auf KPIs habe ich detaillierte Fragen gestellt, um herauszufinden, ob ein Kandidat überhaupt einen wirtschaftlichen Mehrwert für das Unternehmen bringen kann. Das klingt vielleicht so, als ob bei mir Zahlen über Menschen stehen. Aber sei Dir bewusst: Wenn jemand nicht hinter einem Produkt steht, kann er es auch nicht erfolgreich verkaufen. Umgekehrt gehören Menschen, die für ein Produkt brennen, fast immer zu den Highperformern.
Ein anderer Kunde aus der Finanzberatung hatte eine ungewöhnliche Anforderung: Er wollte gezielt Marathonläufer ansprechen. Diese Menschen bringen oft eine besondere Mentalität mit: Willenskraft und die Fähigkeit, Dinge zu Ende zu bringen. Durch gezielte Kampagnen in den sozialen Netzwerken konnten wir diese Zielgruppe ansprechen. Hier zeigt sich ein weiteres Problem des Lebenslaufs: Viele potenzielle Bewerber scheitern daran, weil sie keinen aktuellen Lebenslauf vorlegen können. Dabei haben sie oft genau die richtigen Qualifikationen.
Noch ein Beispiel: Ein Kunde aus der Logistikbranche suchte Mitarbeiter mit Hands-on-Mentalität. Im Lebenslauf schwer greifbar, aber durch Gespräche und gezielte Fragen konnte ich herausfinden, wer wirklich bereit war, in stressigen Situationen Verantwortung zu übernehmen. Gerade bei Quereinsteigern zeigte sich hier enormes Potenzial.
Die Risiken von Lebenslauf-Lügen
Ein gefälschter Lebenslauf birgt nicht nur für den Bewerber Risiken – wie eine fristlose Kündigung – sondern auch für das Unternehmen. Wenn die Unwahrheiten auffliegen, können Firmen Schadensersatz fordern, insbesondere wenn sie Tausende Euro in das Onboarding investiert haben.
In einem Fall, den ich persönlich kenne, hatte ein Bewerber behauptet, fließend Chinesisch zu sprechen. Das stellte sich erst heraus, als er für eine wichtige Verhandlung in China eingesetzt wurde und kein Wort verstand. Die Konsequenzen waren nicht nur finanzieller Natur, sondern auch ein Imageverlust für das Unternehmen.
Der schmale Grat bei der Selbstdarstellung
Ich möchte hier auch eine Lanze brechen: Viele Menschen neigen dazu, sich im Lebenslauf schlechter zu machen, als sie wirklich sind. Ich zum Beispiel schätze mich bei Sprachkenntnissen oft unter Wert ein. Obwohl ich in Unternehmen gearbeitet habe, in denen Englisch die Hauptsprache war, würde ich mich nicht als fließend bezeichnen. Spanisch? Da sage ich, ich kann es nicht – obwohl ich in Spanien ohne Englisch nicht verhungern würde.
Ein Beispiel aus der Praxis: Eine Bewerberin hatte angegeben, nur Grundkenntnisse in Excel zu besitzen. Im Gespräch stellte sich jedoch heraus, dass sie komplexe Makros schreiben konnte – sie hatte schlicht Angst, überheblich zu wirken. Solche Details entdeckt man nur im persönlichen Austausch.
Der persönliche Austausch zählt
Genau solche Dinge kommen nur in persönlichen Gesprächen heraus. Deshalb präsentiere ich meinen Kunden lieber ein ausführliches Profil der Kandidaten anstatt einen Lebenslauf, der vielleicht nicht ganz der Wahrheit entspricht. Kommunikation, gezielte Fragen und der persönliche Austausch sind meiner Meinung nach die besten Werkzeuge, um den perfekten Kandidaten zu finden.
Mein persönliches Fazit: Der Lebenslauf ist überbewertet
Ein Lebenslauf kann ein nützliches Werkzeug sein, aber er ist kein Garant für Ehrlichkeit oder Erfolg. Kommunikation, Recherche und ein persönliches Gespräch sind wesentlich wertvoller. Wenn wir uns zu sehr auf Lebensläufe verlassen, laufen wir Gefahr, große Talente zu übersehen – oder Schwindlern auf den Leim zu gehen.
Ich glaube fest daran, dass die Zukunft des Recruitings in der individuellen Ansprache und in persönlichen Gesprächen liegt. Lebensläufe können eine erste Orientierung bieten, aber die wahre Substanz eines Kandidaten entdeckt man nur im direkten Austausch.